St. Pölten - Das Havanna an der Traisen

Arbeiterseelsorge

Wer behauptet, der Balkan beginne am Südbahnhof, irrt. Nein, rund 60 Kilometer westlich von Wien, als sozusagen westlichste Stadt im Osten, liegt St. Pölten.

Bereits der Name kommt etwas holprig über die Lippen: „Sankt Pöllltennn!“ Diesen wenig attraktiven Namen verdankt die Stadt dem Heiligen Hippolyt. Ursprünglich hieß sie - nach dem Fluss - Traisma. Seit der Trennung von Wien im Jahr 1922 hatte Niederösterreich keine eigene Hauptstadt mehr. Erst 1986 – der damalige Landeshauptmann Siegfried Ludwig setzte sich damit ein Denkmal – wurde die Stadt an der Traisen zum Zentrum und zum Sitz der Verwaltung Niederösterreichs bestimmt und somit als Landeshauptstadt geboren.

Die Stadt mit den rund 50.000 Einwohnern hat historisch kaum Höhepunkte erlebt. Weltweites Aufsehen erregte St. Pölten nur einmal – und zwar im Sommer 2004 durch Bischof Krenn und seine Alumnen…
Gibt man „St. Pölten“ in die weltweite Internetsuchmaschine Google ein, erhält man rund 500.000 Suchergebnisse. Bei Graz sind es rund 10 Millionen, Salzburg bringt es auf rund 15 Millionen, Wien auf rund 33 Millionen Suchergebnisse.

Kaum ein Ort dokumentiert besser, wozu die politische Farbenlehre in Österreich führen kann. Hier die rote Stadt, da das schwarze Land. Sozialdemokraten und Volkspartei blockieren sich in St. Pölten gegenseitig. Das ÖVP-dominierte Land lässt keine Gelegenheit aus, um der sozialdemokratisch regierten Stadt zu zeigen, wo Gott wohnt. Und umgekehrt. Das von der ÖVP getragene Landhausviertel wirkt wie ein Fremdkörper im Landschaftsbild. Rund herum gibt es nur mehrspurige Straßen. Nicht einmal Landeshauptmann Erwin Pröll hat es geschafft, einen direkten Durchgang zur Stadt errichten zu lassen. Weil zwei Politiker nicht miteinander konnten, schaut die Stadt so aus, wie sie ausschaut. Der frühere SPÖ-Bürgermeister Willi Gruber (1985 bis 2004) und der seit 1992 regierende ÖVP-Landeshauptmann Erwin Pröll waren keine Freunde. Darum endet die sozialdemokratische Stadt vor dem Landhaus der Volkspartei. Dafür rächt sich das Land. Finanzielle Zuwendungen fließen hauptsächlich nach Krems. Mit dem Ergebnis: Krems blüht, St. Pölten darbt.

Landhaus-St-Polten

Seit 1997 prägt das Landhaus der Niederösterreichischen Landesregierung das Stadtbild von St. Pölten. Im Mai 1997 traditionell von Bischof Krenn mit einem Festgottesdienst eröffnet, ist es mittlerweile das ungeliebte Wahrzeichen der Stadt. Architektonisch ist es ein ambitioniertes Objekt aus viel Glas und Metall. Es wirkt klar, transparent und offen. Architekt Ernst Hoffmann hat einen guten Arbeitsplatz für 3.000 Beamte geschaffen. Leider hat das Landhaus die Öffnung zur Stadt nie wirklich geschafft. Das „rote“ St. Pölten hat das „schwarze“ Landhaus nie wirklich angenommen.

Ausländische Touristen haben Probleme, St. Pölten zu finden. Offiziell gibt es nur Regional- oder Eilzüge („Beschleunigte“), die nach St. Pölten fahren. Keine Anzeigentafel eines IC oder EC weist darauf hin, dass der Zug auch in der Landeshauptstadt stehen bleibt. Der IC 544, „Oberösterreichische Landesmuseen“, hat folgende Streckenauflistung: Wien – Linz – Attnang Puchheim – Bad Aussee – Steinach Irdning. Der EC 163, „Transalpin“: Basel – Zürich – Buchs – Feldkirch – Innsbruck – Kufstein – Salzburg – Linz – Wien. IC 645, „Heeresgeschichtliches Museum“: Salzburg – Linz – Wien. Die Denkweise der ÖBB ist damit klar dokumentiert: Wer will schon nach St. Pölten?

Wer trotzdem am – wie es in St. Pölten heißt – „Landeshauptstadtbahnhof“ ankommt, spürt den unvergleichlichen Charme des Ostens. Das Bahnhofsgebäude wäre eine ideale Filmkulisse: morbid, alt, rostig. Pläne für einen Umbau des Bahnhofes gibt es seit vielen Jahren. Neuerdings heißt es, dass im Jahr 2013 um rund 155 Millionen Euro ein neuer Landeshauptstadtbahnhof errichtet werden soll. Bleibt abzuwarten, ob es dazu kommt. Gleich hinter dem Bahnhof, Richtung Norden, ist der „Gewerkschaftsplatz“. Der Name sagt schon einiges über seine Atmosphäre aus. Er wirkt wie aus den sechziger Jahren übrig geblieben. Den Mühlweg entlang Richtung Herzogenburgerstraße befindet sich die schmucklose sozialistische Architektur der 50er Jahre. Monumentale Gemeindebauten. Der Geruch der Glanzstoff-Fabrik liegt seit 1903 beißend süßlich in der Luft. Als Fremder erkennt man an dem Gestank immerhin, dass man in St. Pölten ist. Sollte man noch Zweifel haben, hilft einem die Gastronomie: fast jedes Lokal hat ein „Landeshauptstadtstüberl“. Man ist wirklich stolz auf den Titel.


Vor dem Bahnhofsgebäude, Richtung Süden, beginnt die Fußgängerzone. Sie zeigt die beste Seite der Landeshauptstadt. Zahlreiche Spuren des Baumeisters Jakob Prandtauer aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert sind hier zu bewundern. Auch die barocke Innenstadt ist sehenswert. Lieblich. Nett. Beschaulich. Auch Freunde des Jugendstils kommen im Zentrum der Stadt auf ihre Kosten. Das schönste Jugendstilgebäude der Stadt, das "Olbrichhaus", Kremser Gasse 41, wurde 1899 vom Architekten der Wiener Secession, Joseph Maria Olbrich, errichtet. Dazwischen gibt es allerdings Fassaden, die eher an Havanna erinnern. Heruntergekommen. Kaputt. Aber irgendwie pittoresk.

Die Wiener Straße war schon in der Römerzeit eine der beiden Hauptstraßen der Stadt. Nach 1100 wurde sie zum Zentrum der vom Bischof von Passau angelegten bürgerlichen Kaufmannsiedlung. Daran, dass sie als europäischer Reiseweg Bedeutung hatte, erinnern zahlreiche ehemalige Einkehrgasthöfe. Heute findet man dort die typischen Planungsfehler (nicht nur) Niederösterreichs. Riesige Einkaufzentren am Stadtrand haben das Geschäftesterben eingeleitet, von dem auch St. Pölten nicht verschont geblieben ist. Auch die Landeshauptstädter setzen sich lieber ins Auto und fahren zur nächsten Shopping City. Das Geschäft ums Eck bleibt buchstäblich auf der Strecke. Die Wiener Straße prägen heruntergelassene Rollläden, kaputte Geschäfte. Überall sieht man Schilder: „zu vermieten“, „zu verkaufen".

Eierautomat

St. Pölten hat wahrscheinlich ein unlösbares Problem: es liegt zu nahe an Wien. Lange vor Einbruch der Dunkelheit werden daher die Gehsteige hochgeklappt. Die Schüler sind längst wieder nach Zwettl, Gmünd oder Krems zurückgekehrt. Und die Landesbeamten sitzen am Wiener Spittelberg.

Trotzdem mag ich St. Pölten. Irgendwie.

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